xplore09-Komposition der Peitsche von Johannes Gernert (TAZ, 18.07.2009)

Ein Choreograf lässt Menschen beim Berliner Xplore-Festival ihre Körper erforschen. Auch mit Peitschen und Fesseln. Ist das noch Kunst? Oder nur Sex? Und was heißt eigentlich nur?

BERLIN taz | Vielleicht ist es besser, die Peitschen auf dem Wagen neben dem roten Sofa erst einmal zu vergessen und Felix Ruckert einfach nur zuzuhören. Es laufen sonst gleich wieder die Filme ab im Kopf. Peitschen, Fisten, Fesseln. Es sind so düstere Bilder. Latex, Leder, Riemen - Striemen.
Wenn Ruckert davon erzählt, hört sich das anders an. Gar nicht nach Gewalt.

Er sitzt in seinem Tanzstudio, eine helle Fabriketage im Berliner Stadtteil Wedding mit Couches und samtig weißen Matratzen. Seine Hände streichen beim Reden über den Kopf, als würde er ausprobieren, wie man ihn am besten hält, die Haare kaum länger als sein Eineinhalbtagebart. Auf dem Sofa wechseln die Beine ständig ihre Stellung. Er streckt, biegt und zieht sie.

Ruckert ist Choreograf, einer der bekanntesten aus Deutschland. Manche nennen seinen Namen gleich nach Sasha Waltz. Er hat bei der großen Pina Bausch gelernt, die kürzlich gestorben ist. In seinen Aufführungen hat er Zuschauer mit verbundenen Augen in einen Raum voller Tänzer geführt und ihre Körper aufeinander losgelassen. Oder er hat Jesus in "Messiah Game" als ersten Sadomasochisten dargestellt. Es ging ihm um Macht, auch um Vertrauen, darum, wie beides beim Tanzen ineinander spielt - und in anderen Beziehungen.

Vor neun Jahren hat er die japanische Fesselkunst entdeckt. Es hat ihn fasziniert, wie Körper mit Seilen zu Kunstwerken arrangiert werden. Das Stille, Unbewegte daran. Er hat das mit seinen Tänzern nachgemacht und fing so an, sich für die Sadomaso-Szene zu interessieren, auch privat. Er kennt Clubs, Stammtische, Partys, Protagonisten.
2004 hat Ruckert das Workshop-Wochenende Xplore gegründet. Es sollte um anderen Sex gehen. Die Dozenten sprachen nicht nur über "sinnliches Spielzeug", sondern auch über "anales Vergnügen für Anfänger" und "Spanking und Rohrstock". Es wurde nicht nur doziert, auch erlebt. Nackte Menschen, tropfender Wachs, dazu Diskussionen.
Einige Wochen nachdem alles vorbei war, machte ein Berliner CDU-Abgeordneter einen kleinen Aufstand, weil Ruckert 10.000 Euro Senatsgelder verwendet hatte. Gefördert wird Xplore seitdem nicht mehr. Aber am kommenden Wochenende findet das Bondage-SM-Treffen wieder statt. Bondage heißt Fesseln. Felix Ruckert wird über das Peitschen referieren.
Er wird anfangen mit dem Schmerz. Ruckert glaubt, dass Sex von Spannung lebt. Davon, dass es einen Konflikt gibt, ein Hindernis, das überwunden werden muss. "Die meisten Beziehungen", sagt er, "bauen diese Spannung emotional auf." Indem Menschen streiten beispielsweise und sich versöhnen, manchmal mit Sex. "In der SM-Szene ist die Spannung inszeniert", erklärt er. Es gibt Rollen, Konstellationen, Performances - ähnlich wie beim Tanzen. "Es ist ein viel bewussterer Umgang."

Er wird also vor den Leuten im Workshop stehen, die im Schnitt Mitte 30 sind und im Alltag Ärzte, Internetunternehmer, Sozialarbeiterinnen sind. Leute, die darüber nachdenken, wie sie Sex haben und wie sie sich zueinander verhalten. Meist kommen zu Xplore zwischen 150 und 200 von ihnen.
Ruckert kneift sich in den Arm und spricht von der Präsenz, die dadurch entsteht. Von diesem Echo. Die zwei Finger, die zugedrückt haben, sind längst wieder weg. Aber da bleibt etwas, ein Gefühl. Er nennt es eine Öffnung. Es dauert, bis das Licht Bilder ins Gehirn getragen hat, bis die Schallwellen Geräusche durchs Ohr leiten.
Haut ist näher, sagt Ruckert. Direkter. Er streicht sich über den Arm. Peitschen und Streicheln unterscheiden sich gar nicht so sehr, findet er. Wenn man nicht einfach draufhaut. Eine Peitsche ist kein Stock, sondern viel biegsamer, sanfter. Man kann sie über die Haut gleiten lassen wie Haare. Und dann zuschlagen. "Da biste in der Komposition", sagt Ruckert, "das ist sehr musikalisch."
Als er jetzt einige Peitschen vorsichtig vom Wagen nimmt, wirken sie eher wie Instrumente. Ruckert sagt "spielen", wenn er von SM spricht. Es klingt plötzlich mehr nach Beethoven als nach Bondage. Er kann sich da richtig hineinreden, ein bisschen ekstatisch fast sein Blick, die Hände fahren über den Kopf.
Es geht auch um den Kick. Beim Peitschen schüttet der Körper nach einigen Minuten Endorphine aus. Wie eine Droge wirkt das. Woraus sind denn die meisten Peitschen, wird er seine Workshop-Teilnehmer fragen. Na? Aus Leder! Und warum? Weil es Haut ist!

Wovon er da gerade spricht, das ist Kunst. Und es ist Sex. Es ist bei Xplore oft beides, aber die Theorie gibt es selten ohne die Praxis. Vor einem Jahr haben sie einen Fist-Workshop gemacht. Zwei schwule Männer haben Frauen beigebracht, wie sie ihren Männern Finger in den Anus schieben können, wie sie sich mit Gleitcreme und Handschuhen vorbereiten sollten.
Die Männer kauerten auf dem Boden, die Arme auf Kissen. Hinter ihnen die Frauen. "Irgendwie auch eine Performance", sagt Ruckert. Und dann erklärt er, wie im Körper alles zusammenhängt, Mund und Anus, und wie Menschen mit verkniffenem Mund auch einen verkniffenen Arsch haben. Er zieht eine verkrampfte Fresse.
Deshalb haben sie damals am Anfang erst einmal die Lippen gelockert. Es geht dabei ja auch darum, sich zu öffnen, sagt er. Jemanden in sich hineinzulassen. Rollenkonstrukte zu hinterfragen. Was ist ein Mann, was eine Frau? Wer penetriert wen? Auf einmal ist es nicht mehr nur Fisten, kein Stoff für Internetpornos, sondern eher für eine seiner Tanzaufführungen. Er liest Sex wie ein Stück.
Ruckert mischt Esoterik und Erotik. Zur Xplore kommen Tänzer, Sadomasochisten, Schwule, Lesben. Der Choreograf zieht Leute aus den verschiedensten Subszenen an. "Es ist die offenste Veranstaltung, die ich kenne", sagt eine Beraterin aus Süddeutschland, die selbst oft SM praktiziert.
Es kämen viele Leute, die oft gar keine Erfahrung haben und vor allem wissen wollten: Wie fühlt sich das eigentlich an, wie ist das? Peitschen etwa, komponieren. In der SM-Szene seien die Rollen oft klar festgelegt. Da rennt einer mit Maske herum und gibt sich dominant. Gängige Normen würden durch andere ersetzt, durch ähnlich starre. "Die Xplore unterläuft das", sagt die Beraterin. "Es ist ein Experimentierfeld."
In den Köpfen laufen ganz neue Filme. Mittlerweile kennt Ruckert so viele Leute aus all den Szenen, dass ihm immer neue einfallen, die er als Dozenten einladen könnte. Der Internetunternehmer und seine Frau etwa, eine Sozialarbeiterin, sollten den anderen von ihren Spielen erzählen.

Vor dem Sofa in Ruckerts Studio steht eine Holzkiste, die er als Tisch verwendet. Darin hat sich der Mann einschließen lassen. Stundenlang, unten im Keller. Sie haben nicht nur Kisten, sondern auch Spezialschlafsäcke und Särge. Es hat etwas Embryonales, sagt Ruckert. So zusammengekauert liegen, nichts tun. Ein spiritueller Trip, am Ende die Wiedergeburt. Und währenddessen: totale Abhängigkeit von der Frau, die den Schlüssel hat. "Ne Beziehungskiste", sagt er. Das Paar hat sie Ruckert geschenkt. Sie haben noch mehr davon.

VON JOHANNES GERNERT